Technologie- und Ideentransfer nach Europa

Demgegenüber erwartungsgemäß reagiert die Western Electric Company. Im März 1920 berichtet die in London herausgegebene Zeitschrift The Electrician, "the oldest weekly illustrated journal of electrical engineering, industry, science and finance", von der Absicht des Konzerns, eine Beschallungsanlage zu vermarkten.[1] In Rückgriff auf diesen Artikel informiert ein halbes Jahr später auch die deutsche Elektrotechnische Zeitschrift ihre Leserinnen und Leser von Western Electrics Ankündigung, Massenbeschallungsanlagen kommerziell zu verwerten.

"Für die Mitteilung von Sport- und sonstigen Nachrichten an eine große Zuhörerschaft, für das Abrufen von Zügen usw. beabsichtigt die Western El. Co. einen Lautsprecher auf den Markt zu bringen. Dieser besteht aus einem Mikrophon, das in Verbindung mit Übertragern geeigneter Wicklung und Verstärkerlampen […] auf eine Reihe parallel geschalteter Hörer arbeitet."[2]

Offenbar gelingt es Western Electric in wenigen Jahren mit weiteren erfolgreichen Massenbeschallungen in den USA und vermutlich zumindest auch in Großbritannien, sich als hochkompetente Adresse in diesem noch kaum erforschten Spezialbereich einen auch international bekannten Namen zu machen. Die amerikanische Firma wird jedenfalls 1924 beauftragt, in Kooperation mit der englischen Marconi Company die Ansprache des britischen Königs zur Eröffnung der British Empire Exhibition im Wembley Stadium elektroakustisch zu verstärken. Obwohl die Marconi Gesellschaft inzwischen einen eigenen Großlautsprecher zur Massenbeschallung entwickelt hat,[3] fällt ihr lediglich die Aufgabe zu, die Rede zu mikrofonieren und dem Londoner Rundfunksender zwecks Ausstrahlung zu übermitteln, während Western Electric mittels eigener Mikrofone die königliche Stimme abnimmt, um sie den Besuchern der Eröffnungsveranstaltung mit dem "Western-Public System" zu Gehör zu bringen, wie es in der Zeitschrift Der Radio-Amateur heißt, in der dieses Ereignis als neuartiges Betätigungsfeld der Elektrotechnik gewürdigt wird.

"Ein ganz neues Gebiet, wenn auch nicht ganz im technischen Sinne, so doch in der Praxis, stellt die anläßlich der Einweihung durch den König eigens erbaute Sende- und Public-Address-System-Anlage in Wembley dar […]. Das Stadion, das sich mitten in der Ausstellung befindet, ist nämlich größer als unseres im Grunewald und daher erst recht eine Unmöglichkeit der Verständigung eines einzelnen Redners gegeben. Man brachte nun unten an den Stufen des Throns zwei kleine, durch Stoff verdeckte Kästchen mit besonderen Mikrophonen (es sind keine eigentlichen Mikrophone, sondern technisch gesagt: Telephone) von der Marconi-Company an; diese waren mit dem Ausstellungssender, der auf ganz kurzer Welle arbeitet, verbunden, und die so aufgefangenen Töne wurden nach Savoy Hill der britischen Station 2 LO weitergegeben, die sie nunmehr auf bekannter Welle mit 1,5 Kw. in die Welt sandte. Des ferneren waren neben dem Sitz des Thrones ungefähr da, wo man vermutete, daß der König stehen werde, 2 Kohlenstaubmikro­pho­ne der Western Electric Company […] federnd hängend angebracht, und zwar so, das dieselben ungefähr am Hinterkopf des Redners während der Ansprache sich befanden. Diese nun gaben die so aufgefangenen Töne an die Verstärkerzentrale in der Ausstellung, auf der sich die Radioempfangsanlage und die Verteilungssysteme zu den 45 an allen Stellen in der Ausstellung, parallel geschaltet, verteilten Mammutlautsprechern befinden. Sie wurden in diese Apparatur geschaltet und gaben so allen nicht im Stadion Platz gefundenen Abertausenden von Besuchern klar und laut den Eröffnungsakt wieder und verschafften außerdem dem König vermittels der 7 über seinem Thron angebrachten Mammutlautsprecher ebenfalls im Stadion eine Stentorstimme, ohne seine Stimme anzustrengen."[4]

Innerhalb des Ausstellungsgeländes greift Western Electric hiernach auf die Strategie der verteilten Lautsprecheranordnung zurück, wie sie sie 1919 beim Victory Liberty Loan erfolgreich erprobt hatte und wie sie auch in der Vermarktungsankündigung von 1920 wiedererkennbar ist. Zusammengefasst zu Gruppen von je 9 Lautsprechern und an hohen Gerüsten befestigt,[5] dienen die 45 "Mammutlautsprecher" zur gleichmäßigen Flächenbeschallung rings um das Stadion. Die 7 noch größeren Trichterlautsprecher im Wembley Stadium jedoch werden nicht im Stadion verteilt, sondern in halbkreis- oder kreisförmiger Weise über dem Kopf des Königs montiert, sehr ähnlich also der 1919 von Magnavox gewählten Anordnung im Stadion von San Diego, damals mit 2 viertel- bis halbkreisförmig angeordneten elektrodynamischen Trichterlautsprechern über dem Staatsoberhaupt der USA.

Dass sich Western Electric zur Schallversorgung eines Stadions für die zentrale bzw. gegen die bereits bewährte dezentrale Beschallung entscheidet, verwundert insofern, als ihre verteilte Lautsprecheraufstellung die Gefahr von Echos und gegebenenfalls Rückkopplungen im Stadion minimiert hätte. Dieser raumakustischen Probleme sind sich die Western-Mitarbeiter 1924 bereits bewusst, wie ein 1922 in den USA angemeldetes und 1923 auch in Großbritannien eingereichtes Patent belegt.[6] Und in diesem Patent findet sich auch eine Erklärung für die Entscheidung, dem britischen König mit einer kronenartigen Lautsprechergruppe eine Stentorstimme zu verleihen. Denn nicht nur raumakustische, auch psychoakustische Erkenntnisse fließen in das Patent ein, das "Loud Speaking Public Address Systems" beschreibt und mit beigefügter Zeichnung illustriert.

Loud Speaking Public Address Systems
Zeichnung 1 aus Patentschrift „Loud Speaking Public Address Systems“, GB 203677, angemeldet am 28.8.1923.
5: tower, 6-10, 40: loud speaking horns or projectors, 11: speaker’s platform, 12: [transmitter] stand, 13: control room, 15: phonograph, 16: telephone transmitter, 20: a building.

Die raumakustischen Aspekte spiegeln sich in dem eingezeichneten Gebäude wieder, das beispielhaft für reflektierende Wände beziehungsweise, auf ein Stadion bezogen, Tribünen steht. Schallreflexionen werden vermieden, indem der auf das Gebäude zielende Lautsprechertrichter (Nr. 10) steil nach unten geneigt ist, direkt auf die Zuschauer strahlend, die den Schall absorbieren sollen. Aufgrund der per Experiment gewonnenen Erkenntnis, dass bei verteilter Lautsprecheraufstellung häufig die unnatürliche Situation eintritt, dass die visuell und die auditiv wahrgenommene Klangquelle nicht übereinstimmen – aufgrund dieser psychoakustischen Erkenntnis also wird der Lautsprecher-Tower entworfen bzw. die zentrale Rundumbeschallung vorgeschlagen. Die ursprüngliche, menschliche Klangquelle steht hierbei auf der Plattform innerhalb des Gerüsts, ihre elektroakustisch verstärkte Stimme wird von der Spitze des Turms abgestrahlt, um beim ringsum in einiger Entfernung stehenden Publikum den Eindruck zu erwecken, das Gehörte stamme direkt vom Redner.

"It has been found by experiment that the location of the horns in a cluster directly above the speaker and transmitter, gives the audience the same psychological effect as if they were hearing the speaker directly instead of through the intermediary of the address system. It has also been found that, since the speaker is within the acoustical shadow of the horns, there is no objectionable reaction on him due to the enormous volume produced by the loud speaking horns."[7]

Einzelne der im Wembley Stadium benutzten Riesenlautsprecher gelangen nach der elektrifizierten Massenansprache des Königs auf den europäischen Kontinent, wo sie beispielsweise in Prag auf dem Gebäude der tschechischen Rundfunkgesellschaft "Radiojournal" montiert werden, um ganze Straßenzüge zu beschallen, oder in Deutschland auf der Frankfurter Herbstmesse am Stand der "Radio-Werke Schneider-Opel A.-G." als Sensation ausgestellt werden.[8] Auch über die amerikanische Strategie der zentralen Rundumbeschallung bzw. über die Lautsprechertürme werden die elektrotechnisch interessierten deutschen Leser informiert:

"Meist wird die Anordnung einer solchen Megaphon-Anlage entsprechend Abb. 543 bewirkt. Auf der oberen Bühne des hohen eisernen Gerüstes sind die Lautsprecher mit ihren Trichtern aufgebaut und an die Empfangsapparatur angeschlossen. Der Schall bestreicht alsdann den darunter liegenden Platz und ist unter Umständen auf mehrere Kilometer weit hörbar.
Insbesondere in Amerika erfreuen sich diese Lautsprecher besonderer Beliebtheit, nicht nur um politische Botschaften des Präsidenten der Bevölkerung zu übermitteln, Wahlresultate usw. bekannt zu geben, sondern sie sind auch seit Jahren an den belebtesten Punkten der Straßen nordamerikanischer Städte aufgestellt, um über alle aktuellen Nachrichten, insbesondere über Boxmatches, Faustkämpfe usw. der Bevölkerung ständig Mitteilungen zukommen zu lassen."[9]

Die erwähnte Abbildung einer "Megaphon-Anlage" entspricht im Prinzip der Zeichnung aus Western Electrics Public-Address-Patent. Und eine noch detailgetreuere Nachzeichnung dieses Tower-Entwurfs findet sich im Juli 1925 im Funk-Anzeiger, der Beilage des Elektrotechnischen Anzeigers, wieder. Auch der Autor dieses Artikels, der eine genauere Beschreibung des nun der Marconi Company zugeschriebenen Konzepts der Lautsprechertürme gibt, greift die in Deutschland kursierenden Gerüchte über die fortschrittlichen Amerikaner auf und deutet einleitend den Technologie- bzw. Ideentransfer aus den USA über England nach Deutschland an:

"In Amerika, dem Lande der großen Zahlen, sind von jeher Massenversammlungen, z. B. bei Präsidentenwahlen, bei Sportveranstaltungen usw., an der Tagesordnung gewesen. Bald nachdem die Elektronenröhre geschaffen und die Möglichkeit erkannt worden war, mit ihrer Hilfe die Sprache, zunächst bei der drahtlosen Uebermittlung, zu verstärken, tauchte in den Vereinigten Staaten der Gedanke auf, die neue Erfindung auch der Verstärkung des gesprochenen Wortes bei Massenansprachen nutzbar zu machen. Einer der ersten derartiger Versuche größeren Maßstabes fand bei einer Wahlrede in New York statt. Man ließ dort die Wahlredner in ein Mikrophon sprechen, das über Elektronenverstärker mit mehreren über ganze Häuserviertel verteilten Lautsprechern verbunden war. Der Erfolg war ausgezeichnet, denn es konnten viele Tausende von Wählern gleichzeitig die Rede mühelos hören. Seitdem werden in Amerika fast alle größeren Ansprachen des Präsidenten oder anderer führender Männer auf diese Weise verbreitet.

Auch in England hat sich dieses Verfahren neuerdings mehr und mehr eingebürgert. Bei der Eröffnung der Wembley-Ausstellung im vorigen Jahre wurde auf diese Weise die Ansprache des Königs in dem gewaltigen Stadion überall hörbar gemacht. Eine größere Anzahl von Lautsprechern war zu diesem Zweck in dem über dem Thronsessel angebrachten Baldachin verborgen. In Deutschland fand eine derartige Sprachverstärkung in größerem Umfange zum ersten Male bei einer politischen Ansprache statt, die der Reichskanzler anläßlich der Reichspräsidentenwahl in Essen hielt. Zweifellos wird auch bei uns dieses Verfahren mehr und mehr in Anwendung kommen, so daß mit der Entwicklung bestimmter Gerätetypen für diesen Zweck zu rechnen ist."[10]

1 Anonym 1920: 300.
2 Kr. 1920: 758.
3 Nesper 1929: 11-13; siehe auch
http://www.historyofpa.co.uk/pages/amplifiers.htm [2.6.2004].
4 Hausdorff 1924a: 270.
5 Siehe Abb. 1 in Hausdorff 1924a: 270.
6 Patentschrift GB 203677, angemeldet 28.8.1923, mit Prioritätsanspruch ("Convention Date") vom 8.9.1922 durch ein in den USA angemeldetes Patent mit entsprechendem Inhalt.
7 GB 203677, S. 2 der Complete Specification.
8 Siehe Kurzmitteilungen in Radio-Umschau 1924, Nr. 29, S. 863 und Nr. 32, S. 965.
9 Nesper 1925a: 536f., fast identisch auch in Nesper 1925b: 101f. Siehe auch Fig. 1 in Hausdorff 1924b: 1334 und Gustav Klucis‘ futuristische Entwürfe von Rednertürmen, reproduziert in Göttert 1998: 451.
10 Kollatz 1925: 343.